Die Entwicklung des Affolter-Modells® wurde in den siebziger Jahren von Dr. phil. Félicie Affolter und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in die Wege geleitet. Frau Dr. Affolter gründete in St. Gallen (Schweiz) die Institutionen «Stiftung Zentrum für Wahrnehmungsstörungen» (heute: Stiftung wahrnehmung.ch) und «Sonderschule für Kinder mit Wahrnehmungsstörungen». Das Modell wurde in den vergangenen Jahren immer wieder überarbeitet und wird auch heute weiterentwickelt. Das Modell ist an verschiedenen Schulen, Heimen, Therapiestellen und Kliniken im Leitbild verankert, vor allem in der Schweiz, in Deutschland und Dänemark.
Das Entwicklungsmodell
Über Jahre wurde das Interaktionsgeschehen bei entwicklungsunauffälligen Kindern sowie bei Menschen mit beeinträchtigter Entwicklung bzw. nach einer erworbenen Hirnverletzung beobachtet und analysiert. Der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) finanzierte während 10 Jahren mehrere Forschungsprojekte. Auf der Basis dieser Analysen und Studien konnten allgemeingültige Aussagen sowohl zu unauffälliger als auch auffälliger Entwicklung und Verhalten gemacht werden. Daraus wurde ein eigenes Entwicklungsmodell erarbeitet. Die Hauptaussagen dieses Entwicklungsmodells lassen sich folgendermassen zusammenfassen:
- Entwicklung beruht auf einer Interaktion zwischen Person und Umwelt. Dieses Interaktionsgeschehen begleitet den Menschen sein ganzes Leben lang. Wesentliche Bedingung für angemessene Interaktionen ist die Fähigkeit, eigene Ziele zu verfolgen und mit auftretenden Problemen entsprechend umzugehen. Dabei sind Hypothesenbildungen und eine entsprechende Organisation der Informationssuche, der Wechsel der Informationsart und deren Quellen notwendig.
- Das taktil-kinästhetische System (das «Spüren») hat durch seinen Stellenwert innerhalb der Interaktion und seine Beziehung zu anderen Wahrnehmungssystemen eine herausragende und führende Bedeutung für die Entwicklung des Menschen. Die Suche nach gespürten Informationen umfasst zwei Aspekte: zum einen die ständige Informationssuche nach dem «WO» (Körperposition im Raum: Wo bin ich? ‒ Wo ist meine Umwelt?) und zum anderen die Informationssuche nach dem «WAS» (Geschehen).
- Das unauffällige Kind interagiert mit seiner Umwelt. Dabei sammelt es sog. gespürte Interaktionserfahrungen, dies beim Problemlösen im Alltag. So entsteht ein reichhaltiger Erfahrungsschatz, welcher als Wurzel der Entwicklung angesehen wird. Wächst die Wurzel durch Ausweitung der gespürten Interaktionserfahrung, so zeigen sich im Verlauf verschiedene Entwicklungsleistungen und -stufen. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass kein direkt-hierarchischer Zusammenhang zwischen einfacheren und komplexeren Leistungen bzw. früheren und späteren Entwicklungsstufen besteht. In diesem Punkt unterscheidet sich dieses Entwicklungsmodell wesentlich von anderen Entwicklungsmodellen (z.B. Teilleistungsmodellen). Es wird vielmehr angenommen, dass die Leistungen bzw. Stufen in direktem Zusammenhang mit der Wurzel stehen.
So werden verschiedenste Störungen, angeborene wie erworbene (z.B. nach Schlaganfall und Schädel-Hirn-Trauma), in Bezug zur Gesamtentwicklung bzw. Gesamtsituation des Betroffenen gesehen und aus dieser Sicht erklärt. Beispielsweise werden damit Störungen im sprachlichen Bereich, im (Wieder-)Erwerb von Kulturtechniken oder bei Schwierigkeiten, die eine sinnvolle Bewältigung des Alltags nicht (mehr) zulassen, als Ausdruck von umfassenderen Störungen interpretiert. Diese werden als Störungen der zentralen Organisation der Wahrnehmung bezeichnet.
Die Therapiemethode (Gespürte Interaktionstherapie)
Die Methode findet Anwendung bei:
- Entwicklungsauffälligen Babys und Kleinkindern
- Entwicklungsstörungen der Sprache/Kommunikation, der Motorik und bei kombinierten Störungen
- Schulkindern mit Lernschwierigkeiten
- Jugendlichen mit Schwierigkeiten in der beruflichen Eingliederung
- Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (z.B. Autismus, Rett-Syndrom)
- Patienten/-innen mit erworbenen cerebralen Schäden (z.B. Schädelhirntrauma, Schlaganfall)
- Älteren Menschen mit dementiellem Syndrom (z.B. Alzheimer)