Lukas, unser ältester Sohn, ist durch eine schwere Geburt mit Sauerstoffmangel stark intermodal wahrnehmungsgestört. Er hat Mühe, die Wahrnehmungen seiner Sinnesorgane aufeinander abzustimmen und sie verwerten zu können. Dies ist kombiniert mit einem cerebralen Geburtsschaden. Er ist sprachlos, 190 cm groß mit den Körperkräften eines erwachsenen Mannes, die er kaum sinnvoll beherrschen und einsetzen kann. Lukas hat noch vier gesunde jüngere Geschwister. Durch dauernde Über- und Unterforderungen drohte er in seinen Pubertätsjahren zunehmend in Ängsten und gefährlichen Aggressionen zu versinken.
Lukas erlebte die Anfänge des Zentrums für Wahrnehmungsstörungen. Damals gab es keine WG-Schule. Nur bis zu seinem Schuleintritt in die heilpädagogische Schule in Weinfelden erhielt er regelmäßig Therapie im Zentrum. In diesen Jahren liess Lukas, stark in sich gekehrt, alles mit sich geschehen, beispielsweise stundenlange Wanderungen mit der ganzen Familie. Da Lukas seit seiner Geburt ein schlechter Schläfer war, so dass wir immer mehrmals in der Nacht aufstehen mussten benutzten wir den Wohnortwechsel ins Glarnerland und begannen mit 10 Jahren das Wocheninternat. So gewannen wir mehr Raum für die Begleitung unserer gesunden Kinder.
Betreuerwechsel und der Versuch, mit einem Gipskorsett seinen rasch wachsenden, schwachen Rücken zu stützen, lösten Angstphasen aus, während denen Lukas wochenlang nur klagte und keinen Schlaf mehr fand trotz Schlafmedikamenten. Kein frohes Lachen war mehr zu hören! Der Beruf und die Familie forderten trotz schlafloser Nächte unseren vollen Einsatz. Im Rückblick staunen wir, wie geduldig die gesunden Geschwister Lukas ertrugen und begleiteten. Welches Fest, wenn Lukas nach überstandener Krise das erste Mal wieder lachte. Zunehmend ängstigten ihn die Wechsel zwischen Wohnheim und Zuhause. Als Folge davon verweigerte Lukas teilweise stundenlang das Einsteigen ins Auto. Da half keine List! In diese Phase fielen Sommerferien im Engadin. jeder Ausflug mit dem Auto wurde zur Familientortur! Steigt Lukas endlich ein, oder marschiert er lieber eine Stunde weit bis ins nächste Dorf. Das bedeutete für die gesunden Geschwister warten, warten! Getrennte Programme entspannten die Situation. Lukas stieg in keine Gondelbahn mehr ein, obwohl er große Lust dazu hatte. Jahre später gelang es mir mit intensivem Körperkontakt vom Rücken her, Lukas sachte in eine Gondel zu führen. Die Angst war riesig, aber noch größer der Stolz nach der gelungenen Fahrt! Den ganzen Tag über begleitete uns sein stolzes Lachen.
Dauernde Über- und Unterforderungen steigerten zwischen 16–20 Jahren die Aggressionen. Schlagen, kneifen bis man blutete, wüten und ausflippen, Glastüren und Scheiben einschlagen machten uns das Leben schwer. In stundenlangen Spaziergängen, teilweise in geführten Situationen oder beim Singen von Liedern beruhigte er sich für kurze Zeit. Auf den Spaziergängen riß er sich in seiner Wut die Kleider vom Leib. Bei einem Hallenbadbesuch am Samstagnachmittag mit allen Kindern, knallte Lukas einer Mutter eine zünftige Ohrfeige. Die Folge war ein beinahe leeres Bassin für unsere Familie. Am liebsten hätten wir uns in ein Mauseloch verkrochen!
Trotz alljährlicher Beratung im Zentrum für Wahrnehmungsstörungen stagnierte seine Entwicklung und drohte in immer schwereren Angst- und Aggressionsschüben ganz zu ersticken. Während eines kurzen Aufenthaltes rastete Lukas so stark aus, das er medikamentös ruhig gestellt wurde. Angeblich wieder führbar kehrte er nach Hause zurück. In unheimliche Ängste versunken liess er niemanden an sich heran. Er klagte und flatterte mit den Händen tage- und nächtelang. Viertelstündlich holte er uns aus dem Bett bis zur Erschöpfung. Nach Absetzen aller Medikamente gelang es allmählich mit viel Zuwendung, singen und stundenlangen Spaziergängen (Lukas hielt es in seiner Angst in geschlossenen Räumen nicht aus!) in acht Wochen, ihn aus seiner unerträglichen Angst herauszuführen. Die Lage im Heim und zu Hause wurde unhaltbar. Nur unser Arbeits- und Wohnortwechsel nach St. Gallen machten die Aufnahme in die Erwachsenengruppe des Tandem möglich. Dies bewahrte Lukas vor einem wohl endgültigen Erlöschen seiner Persönlichkeit einer psychiatrischen Klinik. Für die Geschwister, alle im Sekundarschulalter und in der Lehre, war der Wohnortwechsel ein harter Schlag. Teilweise rebellierten sie zuerst stark. Rückblickend sagen sie heute übereinstimmend, dass der Wechsel nach St. Gallen auch für sie sich positiv ausgewirkt habe.
Trotz sehr sorgfältigem Vorbereiten von Lukas auf den Umzug und Schnupperwoche im Tandem löste der nochmals eine happige Angstphase aus bei ihm. Wieder spazierten wir wochenlang Tag und Nacht im Haus und in der Umgebung. Nur weinen und flattern! Wird Lukas im Tandem haltbar sein?
Wir gaben Lukas zu spüren: "Wir merken dass es dir nicht gut geht, wir sind bei dir. Das geht vorüber".
Fester Rahmen durch sorgfältige Absprachen der Betreuung zu Hause und in der Wohngruppe. Dieser gibt ihm Sicherheit und hat die Angstzustände abgebaut.
Intensive Führunggstherapie beim Lösen alltäglicher Probleme hilft ihm, seine Umwelt besser wahrzunehmen und zu begreifen. Erfolgserlebnisse machen ihn oft richtig glücklich, fördern stark sein Sprachverständnis.
Training einer eigenen Körpersprache helfen ihm, sich besser verständlich zu machen, beispielsweise beginnt er zu winken, wenn ich beim Spazieren zu lange mit der Nachbarin schwatze; oder er führt Papa zum Kühlschrank und zeigt ihm die Mettwurst. Am Morgen steckt er den Stöpsel in die Badewanne, läßt Wasser einlaufen, holt mich aus dem Bett und führt mich ins Badezimmer und nickt intensiv mit dem Kopf!
Die familiäre Kleingruppe ist für all das der ideale Rahmen.
Die Aggressionen sind stark zurückgegangen. Ansätze zur besseren Bewältigung seiner Gefühle zeigen sich vermehrt.
Die Angstzustände sind völlig verschwunden. Wir genießen ruhige Nächte wie nie zuvor, alles ohne Medikamente!
Wachsendes Interesse an seiner Umwelt und den Mitmenschen und Aufnahme intensiver Gefühlsbeziehungen sind möglich. Lukas läßt nicht mehr über sich verfügen, er will selber entscheiden können.
Lukas hat bei aller bleibenden Unselbständigkeit zur frohmütigen und glücklichen Persönlichkeit gefunden, die noch immer Neues lernt und aufnimmt, aber dringend diesen fachlichen kompetenten und geschützten Rahmen braucht. Er kann wieder aus tiefster Seele heraus glücklich sein und lachen. Er lernt, statt auszuflippen, wenn die Spannung steigt, jemanden bei der Hand zu nehmen und zu zeigen, was er will. Er beginnt, eigene Problemlösungen zu suchen.
Unterdessen sind alle Kinder erwachsen und ausgeflogen. Wenn sie nach Hause kommen, sind sie enttäuscht, wenn Lukas nicht zu Hause ist. Für Lukas ist es jedes Mal ein frohes Erlebnis, eines seiner Geschwister zusehen. Er holt sie jeweils neben sich auf die Couch, damit sie mit ihm singen und plaudern.
Lukas ist zu einer Persönlichkeit herangewachsen, die ihr rundes, ihm bestimmtes Leben leben darf. Er ist für seine Umgebung nicht nur "tragbar" geworden, sondern eine Bereicherung.
Die Eltern Bernhard und Elisaheth Brassel