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Ein Nachruf auf Félicie Affolter

„Wir sind noch nicht auf der höchsten Bergspitze angekommen – noch nicht dort, von wo man alles überblicken kann…. Wir glauben jedoch, dass wir auf einer wichtigen Höhe angekommen sind – so weit oben, dass man den bis jetzt zurückgelegten Weg über-
blicken kann. Der Weg ist soweit gesichert, dass wir andere Wanderer einladen können, zu uns zu kommen, hier mit uns zu verweilen und mit uns weiterzugehen“.

Félicie Affolter 1987

 

Nun ist sie angekommen. Dr. Félicie Affolter, Lehrerin, Forscherin, Suchende ist am 5. November 2024 im Alter von 98 Jahren gestorben.

Unbequem war sie, rastlos forschend, immer der Sache auf den Grund gehend. Bequeme, schnelle Antworten liess sie nicht gelten. Ungenaue Beobachtungen oder vorschnelle Interpretationen waren ihr ein Gräuel. Auf der anderen Seite konnte sie sich freuen wie ein Kind, wenn sie Fortschritte sah, sei es bei den Kindern oder Erwachsenen, die nach ihrer Methode, der gespürten Interaktions-
therapie, behandelt wurden, sei es im Ringen um die genaue Formulierung eines Sachverhaltes. „Prächtig!“ war dann ihr Ausruf, und ein Strahlen ging über ihr Gesicht, das auch im hohen Alter noch voller Leben und Neugier war.

So ungeduldig sie sein konnte, so grenzenlos geduldig war sie mit den Menschen, denen sie ihr lebenslanges Schaffen verschrieben hatte, den Menschen mit Problemen in der Wahrnehmung. Mit Äusserungen, wie „der/die will nicht, hat keine Lust…“ konnten sich Kursteilnehmer*innen buchstäblich glühende Kohlen auf ihr Haupt laden. Beharrlich ging sie bis zum Schluss auf die Suche nach den Ursachen für Schwierigkeiten in einer speziellen Situation. Nicht selten resultierte daraus eine neue Erkenntnis, die sie am Ende einer Kurswoche in ihr legendäres Abschlussreferat einbaute.

„Wenn ich das Zeug dazu gehabt hätte, wäre ich Frauenrechtlerin geworden“, hat sie 2014 in einem Interview gesagt. Sie hätte das Zeug dazu gehabt, aber andere Dinge waren ihr wichtiger als die Tatsache, dass sie als Frau ihrer Generation immer wieder um Anerkennung kämpfen musste. Anerkennung als Wissenschaftlerin und Anerkennung für ihre Erkenntnisse. Diese Anerkennung wurde ihr zeitlebens eher im Ausland zuteil. 1994 wurde Félicie Affolter von der Michigan State Universität in East Lansing als „Person of the year in Infant Studies“ gewählt und bekam gleichzeitig einen Auftrag für Vorlesungen und verschiedene Seminare. 2008 haben Global Programs and Strategy Alliance (GPS Alliance) und University of Minnesota Alumni Association (UMAA) der Universität von Minnesota sie für ihr Lebenswerk mit dem „Distinguished Leadership Award for Internationals“ ausgezeichnet.

Wichtiger als diese Ehrungen war ihr aber immer, dass sie in den USA den Raum und die Möglichkeit bekam, ihre Forschungen auf dem Gebiet der Wahrnehmung weiterzutreiben. Die Ergebnisse ihrer jeweils vierteljährlichen Forschungsaufenthalte brachte sie unmittelbar in die Arbeit in der Schweiz und im benachbarten Ausland ein. Unermüdlich reiste sie von Kursort zu Kursort und bildete Generationen von Fachleuten zu Therapeuten und Therapeutinnen im Affolter-Modell® aus.

Aus diesem Kreis erwuchs mit den Jahren eine Gruppe von Lehrenden, die das Modell weiter verbreitete. Noch im April 2024 nahm Félicie Affolter am APW-Treffen dieser Lehrenden in Disentis teil und verbrachte den Tag mit fachlicher Diskussion und dem Wieder-
sehen von vielen vertrauten Personen.

Als sie aufgrund zunehmender Altersbeschwerden diese Kurse nicht mehr alleine mit ihrem langjährigen Forschungspartner
Dr. Walter Bischofberger bestreiten konnte, wirkte sie dennoch im Hintergrund und verknüpfte am Ende einer Kurswoche die von den Leitenden gesponnenen Inhaltsfäden zu einem tragfähigen Netz.

Auch nach dem Tod von Walter Bischofberger im Jahr 2020 setzte sie ihr Forschungsarbeit fort und arbeitete bis zu ihrem Tod in enger Zusammenarbeit mit weiteren Weggefährt*innen an neuen Publikationen.

Ihre Home-Base für diese Arbeit waren für viele Jahre die beiden von ihr in St. Gallen gegründeten Institutionen, die Sonderschule für Kinder mit Wahrnehmungsstörungen und das Zentrum für Wahrnehmungsstörungen, die heutige Stiftung wahrnehmung.ch. Hier hatte sie eine Gruppe engagierter Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen um sich geschart, die sie in der Forschung unterstützten, und hier fand sie die Möglichkeit, das von ihr propagierte Lernen im Alltag nicht nur für die Klienten und Klientinnen zu ermöglichen, sondern auch für das Personal. Daraus entstand das Buch „Wahrnehmung, Wirklichkeit und Sprache“ (Neckar-Verlag, 1987), das in Fachkreisen wohl immer mit ihrem Namen verbunden sein wird. Dr. phil. habil. E. E. Kobi (Basel) schreibt dazu in seiner Rezension: „Ein nach Inhalt, Ausstattung, Schreib- und Präsentationsweise wunderbares Buch, welches ganz dazu angetan ist, wenigstens einen Teil der lange Zeit in Faktenhuberei und Statistiken verdorrten Kinderpsychologie wieder in den lebendigen Alltag zurückzuholen und somit der (Heil-) Pädagogik näherzubringen.“